Vertrauensarbeit in der Finanzökonomie - (DFG, 2017 - 2021)
Forschungsprojekt, gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG):
Laufzeit 10/2017-06/2021
Berichte über Anlageskandale und den Vertrauensmissbrauch von einzelnen Bank- und Versicherungsinstituten gegenüber ihren Kund_innen durchziehen nicht erst seit dem Beginn der Finanzkrise 2007/2008 in regelmäßigen Abständen die Presseberichterstattung über die europäische Banken- und Versicherungsbranche. Auch die etwa acht Jahre zuvor geführte öffentliche Debatte zur Rentenreform, deren berühmtestes Kind die Riesterrente ist, zeugen von grundsätzlichem Misstrauen gegenüber dem Finanz- und Versicherungsektor. In den (Zeitungs-)Artikeln zur Finanzkrise wie auch zur privaten Altersvorsorge gibt es ein immer wiederkehrendes Moment: Das Vertrauen der Kund_innen spielt eine wesentliche Rolle für eine gelingende Finanz- und Vorsorgeberatung sowie die langfristig stabile Beziehung zwischen Kund_in, Berater_in und Institution. Dem weitverbreiteten negativen Branchenimage und einem seit einigen Jahren zunehmend geäußerten Misstrauen von Anleger_innen müssen nun vor allem die Berater_innen in besonderer Weise im alltäglichen Kontakt mit ihren Kund_innen entgegenarbeiten. Vertrauensarbeit, so eine These des Projekts, ist zweifelsohne zum zentralen Bestandteil des Arbeitsalltags von Berater_innen geworden. Zumal in Zeiten einer krisenhaften Finanzwirtschaft, abstrakter und schwer verständlicher Anlageprodukte die Abhängigkeit von persönlichen Beratungen zu steigen scheint. Zusätzlich ist eine private Altersvorsorge seit der rot-grünen Rentenreform zu Beginn der 2000er kein Phänomen Einzelner mehr, sondern wird staatlich gefördert und als unabdingbar für weite Teile der Bevölkerung gesehen. Private Finanz- und Vorsorgeberatung ist in den letzten 20 Jahren Alltagsrealität für einen Großteil der Bevölkerung geworden.
Das Forschungsprojekt versucht die Bandbreite dieses auf Vertrauen basierenden Finanz- und Versicherungsmarkts ethnographisch greifbar zu machen:
Im Zentrum steht die Entstehung der privaten Altersvorsorge als Teil der Entwicklung der Bundesrepublik zu einem „aktivierenden Sozialstaat“ (Lessenich). Die Notwendigkeit einer zusätzlichen privaten Altersvorsorge zwingt Menschen aller Teile der Bevölkerung zu einer Auseinandersetzung mit dem Finanzmarkt und damit auch zu einer Auseinandersetzung mit einem_einer Finanz- oder Versicherungsberater_in. Wie zeigt sich in der Vertrauensbeziehung von Berater_in und Vorsorgesubjekt auf mikroskopischer Ebene ein Systemvertrauen? Welche Rolle spielt Vertrauen in das Wirtschaftssystem und das eigene Verständnis von diesem für jene Beziehung?
Einen speziellen Aspekt, die Relevanz von Zukunftsentwürfen, hat Dominik Speidel, ehemalige wissenschaftliche Hilfskraft im Projekt, in seiner mit dem Instituts-Masterpreis 2020 ausgezeichneten Studie bearbeitet. Die Masterarbeit wurde 2021 im Utz-Verlag publiziert und trägt den Titel: „Imaginierte (Vor-)Sorge. Zur diskursiven Konstruktion von Zukunftsvorstellungen in Versicherungsmedien“
Die Arbeit geht von der Beobachtung aus, dass die Versicherungsbranche ihr Geld mit der Zukunft verdient. Dominik Speidel schreibt: „Ohne das Kommende, das immer kontingent ist und sich durch Ungewissheit auszeichnet, wäre ihr Nutzen obsolet. Es ist deshalb gerade die Unsicherheit der individuellen Lebensverläufe, auf dem das Geschäftsmodell der Versicherungswirtschaft basiert. In der Praxis stellen Versicherungsunternehmen unterschiedliche Zukunftsszenarien bereit und verleihen dadurch der ungewissen Zukunft ein imaginatives Antlitz. Mittels diverser Inszenierungsstrategien setzen sie dabei vor allem auch mögliche Risiken auf die Agenda ihrer Kund*innen. In der Forschungsstudie werden nun diese diskursiven Imaginationsakte aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive heraus analysiert. Auf Grundlage der Auswertung von Versicherungswebsites rücken neben Textbausteinen vor allem Bilder, Metaphern, Statistiken und Grafiken in den Vordergrund der Betrachtung. Das umfassende Semantik- und Bildrepertoire der Versicherungskommunikation wird dadurch erschlossen und diskurstheoretisch eingeordnet.“
Weitere Infos unter: https://www.utzverlag.de/catalog/book/44880
Zusätzlich zu diesem Aspekt setzt sich Thomas Heid als externer Dissertand mit dem Beratungssegment des Private Banking am Beispiel Schweizer Privatbanken auseinander. Dessen Forschung ist dabei von der These geleitet, dass in einer „ästhetischen Ökonomie“ (Reckwitz) Vertrauen nicht nur durch die Beziehung von Berater_innen und Kund_innen erzeugt wird, sondern ebenso durch beispielswiese die ästhetische und atmosphärische Gestaltung der Räumlichkeiten von Banken. Wie sich Vertrauensarbeit konkret in den Interaktionen von Bankberater_innen ausgestaltet und wie sie sich auch in Architekturen und Interieurs materialisiert, atmosphärisch für Kund_innen erlebbar wird und vertrauensstiftend wirkt, ist Thema der ethnografischen Untersuchung.
Für die Studie hilfreich ist der subjektorientierte weite Arbeitsbegriff der europäisch-ethnologischen Arbeitsforschung. Die arbeitsethnographischen Studien dieses Projekts stehen im Schnittfeld der Anthropology of Emotion, der Anthropology of Finance und der neueren Debatten um die Ästhetisierung des Ökonomischen, respektive der Ästhetisierung von Arbeit.
Projektleitung:
Prof. Dr. Irene Götz, München
Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie
Ludwig-Maximilians-Universität München
Oettingenstr. 67
80538 München
Wissenschaftliche Mitarbeit:
Lukas Rödder, M.A.
Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie
Ludwig-Maximilians-Universität München
Oettingenstr. 67
80538 München
lukas.roedder@ekwee.uni-muenchen.de
Wissenschaftliche Hilfskraft:
Anna Klaß. B.A.
Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie
Ludwig-Maximilians-Universität München
Oettingenstr. 67
80538 München
Ehemalige Mitarbeitende:
Thomas Heid, M.A.
Dominik Speidel, M.A.
Felix Gaillinger, B.A.
Projektpublikationen:
Lukas Rödder und Dominik Speidel (2023): Wie man das "gute Leben" absichert. Über Zukunftsszenarien im Versicherungskontext. In: Manuel Trummer et al. (Hg.): Zeit. Zur Temporalität von Kultur. Münster, New York: Waxmann, S. 213-222.
Heid, Thomas J. (2019): „Vertrauen ist das wertvollste Asset von Banken“. Zu den Ästhetiken und Praktiken der Vertrauensarbeit in der Finanzberatung. In: Braun, Karl (u.a.) (Hg.): Wirtschaften. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Marburg, S. 533-544.
Heid, Thomas J. (2017): Die guten Gefühle sind entscheidend! Ästhetiken und Praktiken der Emotions- und Vertrauensarbeit im Private Banking. In: Kuhn, Konrad J./Sontag, Katrin/Leimgruber, Walter (Hg.): Lebenskunst. Erkundungen zu Biographie, Lebenswelt und Erinnerung. Festschrift für Jacques Picard. Wien u.a., S. 114-124.
Heid, Thomas J. (2017): Reflexiones respecto a una Antropología de la Confianza. Estéticas y practices en la banca privada. In: Schriewer, Klaus/ López Martínez, Gabriel (Hg.): Avances de Antropología Económica. Revista Murciana de Antropología (24), S. 141-166.
Heid, Thomas J. (2010): Der Anlagekapitalismus lebt. Wie selbständige Finanzberater die Wirtschaftskrise überstehen. In: Götz, Irene/Huber, Birgit/Kleiner, Piritta (Hg.): Arbeit in neuen Zeiten. Ethnografien zu Ein- und Aufbrüchen. München, S. 103-122.
Wietschorke, Jens (2019): Zwischen Solidität, Diskretion und Transparenz: Zur Architektursprache von Bankhäusern. In: Braun, Karl (u.a.) (Hg.): Wirtschaften. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Marburg, S. 545-553.