Institut für Empirische Kulturwissenschaften und Europäische Ethnologie
print

Links und Funktionen
Sprachumschaltung

Navigationspfad


Inhaltsbereich

Simone Egger: Abstract Dissertationsprojekt

München wird moderner. Zur Atmosphäre einer Stadt in den langen 1960er Jahren

„München verdankt seinen Magnetismus einem Bündel von Faktoren, deren jeder einzelne bemerkenswert wäre, die aber erst im Zugleich, ihrem Ineinanderwirken jenes ‚Etwas’ erzeugt haben, dass die Attraktivität dieser Stadt ausmacht – das Menschen und Unternehmen aus so vielen Himmelsrichtungen herbeigeführt hat. Die Lage in einer der schönsten voralpinen Landschaften und die Fülle von Werken und Einrichtungen der Kunst und Wissenschaft wären für sich schon Magnete. Aber erst die bajuwarisch-katholische Grundstimmung von Tradition und Behagen, von Eigensinn und barocker Modernität erfüllen die Voraussetzungen für den Begriff ‚München’ “, heißt es in einem Reiseführer von 1971.

Immer mehr Menschen leben heute in urbanen Räumen. Metropolen gewinnen an Einfluss und Konkurrenz. Ästhetische Ökonomien charakterisieren Städte im globalen Wettbewerb. Worin aber besteht das Potential einer Stadt? Was macht einen komplexen Raum wie München aus? Die Kulturwissenschaftler Johannes Moser und Rolf Lindner sprechen von einem spezifischen Habitus, Städte werden ganzheitlich und unter dem Aspekt wechselseitiger Abhängigkeiten in den Blick genommen. Aus Dispositionen, Brüchen, Einsichten und Utopien entstehen signifikante Geschmackslandschaften. Räumliche und soziale Strukturen verbinden sich in den Alltagspraxen der Akteure zu einer urbanen Biografie. Die Genealogie einer Stadt weist Verknüpfungen, aber auch Ungleichzeitigkeiten auf. München etwa ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts Sitz der bayerischen Monarchen und wird 1918 zum Schauplatz einer Revolution. Die Nationalsozialisten machen München zur „Hauptstadt der Bewegung“ und nach 1945 liegt die Stadt nicht nur sprichwörtlich am Boden. Unter amerikanischer Besatzung gelingt in Folge jedoch der Wiederaufbau und München leuchtet erneut. In der Gegenwart ist Bayerns Landeshauptstadt wirtschaftlich erfolgreich, verfügt über Alleinstellungsmerkmale wie den FC Bayern oder das Oktoberfest und steht für hohe Lebensqualität.

Im Verlauf der neuesten Stadtgeschichte ist der Zeitraum von 1958 bis 1974 von besonderer Bedeutung. München wird moderner auf dem Weg in die Spätmoderne. Der städtische Raum wandelt sich durch einschneidende Baumaßnahmen, Zukunft bedeutet Fortschritt, Distanzen ändern sich mit der Infrastruktur. Die Dynamik der 1960er Jahre ergreift auch die Münchner Gesellschaft, Schwabing und die Leopoldstraße symbolisieren Jugend, Freiheit und Konsum. 1966 erhält München den Zuschlag für die Olympischen Spiele im Jahr 1972, urbane Entwicklungen beschleunigen sich. Die Stadt repräsentiert lokale wie regionale Interessen, und vor internationalem Publikum setzt sich eine demokratische Bundesrepublik neuerlich in Szene. Im Kontext der Ereignisse verdichten sich Zeitgeist und Stadtraum zu einer außergewöhnlichen Atmosphäre.

Mein Interesse gilt nun den Befindlichkeiten von München und seinen Bewohnern. Was ist mit den Dispositionen der Stadt in den langen 1960er Jahren geschehen? Was wurde wahrgenommen und welche Verläufe zeichnen sich ab? Welche Akteure spielen eine Rolle? Wie und wo äußert sich die Spezifik der Stadt? Interdisziplinär und multimethodisch versuche ich mittels Interviews, Beobachtungen, Archiv- und Medienrecherchen, dem Leben in der „Heimlichen Hauptstadt“ nachzuspüren. Alltägliche Phänomene objektivieren Gesellschaft, Raum und Zeit. Im Vorfeld von Olympia werden Ansichten multipliziert. Stimmung, Stadt und Spiele wirken auf Personen und Räume, spiegeln sich in Dingen, Begebenheiten und Ideen. Prozesse einer Internationalisierung und analogen Regionalisierung, der Modernisierung und gleichzeitigen Traditionalisierung, einer Liberalisierung oder auch Festivalisierung zeichnen sich ab. Relevante Themenkomplexe sollen auseinandergesetzt werden und in urbanen Reportagen Gestalt annehmen.