Institut für Empirische Kulturwissenschaften und Europäische Ethnologie
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Julian Hörner: Abstract Dissertationsprojekt

"Die Kur in der Krise. Veränderungsprozesse im deutschen Kurwesen am Beispiel der Kurregion Rottaler Bäderdreieck"

Das Thema meines Dissertationsprojekts sind die Veränderungen, die sich im Kurwesen in Deutschland seit der sogenannten Kurkrise in den 1990er Jahren ergeben haben. Mich interessiert, wie die Akteure in diesem Feld, also Kurärzte, Therapeuten und Heilpraktiker, aber auch Angestellte der Kurverwaltungen und Hoteliers, diese Wandeljahre erlebt haben.

Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann man in allen hoch entwickelten Gesellschaften einen Wandel im Umgang mit Gesundheit und Krankheit beobachten: Der Gesundheit wird ein sehr hoher individueller wie auch gesellschaftlicher Stellenwert eingeräumt, der sich selbst legitimiert, als aktiv herstellbar gedacht wird und somit traditionelle Krankheits- und Behandlungskonzepte in Frage stellt. Ilona Kickbusch hat für dieses Phänomen den Begriff „Gesundheitsgesellschaft“ geprägt. Im Zuge der von Eberhard Wolff konstatierten Marktförmigkeit des Gesundheitsgeschehens, in dem „Heiler und Patienten bzw. Angebot und Nachfrage in wechselseitiger Abhängigkeit stehen“, brechen die ärztlichen Behandlungsmonopole immer mehr auf und ebnen so den Weg für alternative und komplementäre Behandlungsmethoden, die häufig aus dem Bereich der Heterodoxen (Nicht-Evidenzbasierten) Medizin stammen. Dies hat zu einer starken Ausdifferenzierung der Angebote geführt: So kümmern sich heute neben approbierten Ärzten, Physiotherapeuten und Heilpraktikern auch beispielsweise Ernährungsberater, Fitnesstrainer, Yoga- und Entspannungstherapeuten um das Wohl ihrer Patienten, die immer häufiger auch als Kunden auftreten.

Vor dem Hintergrund eines Forschungsfeldes, dessen Struktur auf das Angebot als „Gesundheitsstandort“ ausgerichtet ist, lautet meine forschungsleitende Fragestellung: Sind Kurorte eine Verdichtungs-Zone der heutigen Gesundheitsgesellschaft, und wie wird diese Verdichtung bewirkt? Über welche Bedeutungen verfügen diese Prozesse?

Spätestens seit Mitte der 1990er Jahre gehen die Entwicklungsrichtungen sowohl der Kur auf der einen Seite, als auch der übrigen, weniger medizinisch ausgerichteten Angebote auf der anderen Seite, stark ineinander über und orientieren sich an den Bedürfnissen gesundheitsorientierter Kur-Urlauber und der Gruppe der gesundheitsbewussten Selbstzahler, für die neben der Wiedererlangung der Gesundheit auch die Erholung als Reisemotiv in den Vordergrund tritt. Da die Anträge auf präventive Vorsorgeleistungen (der gesetzliche Nachfolger der ambulanten Badekur) in den letzten zwei Jahrzehnten drastisch zurück gegangen sind, formen mehr und mehr Selbstzahler den ehemals kurgeprägten Anbieter- zu einem Nachfragermarkt um und verändern so die Arbeits- und Lebensbedingungen weiter Bevölkerungsteile in sonst meist konjunkturschwachen ländlichen Regionen. Diese Veränderungen haben eine nicht zu unterschätzende gesellschaftliche Brisanz. Denn allein in deutschen Heilbädern und Kurorten waren im Jahr 2010 circa 350.000 Menschen beschäftigt, die zwanzig Millionen Gäste bewirteten.

Erste Beobachtungen im Feld einschließlich Interviews mit im Kurwesen Tätigen brachten zutage, dass im Bereich der Kurmedizin nicht unbedingt andere Angebote zu finden sind, als sie der medizinische Markt in einer Großstadt bereit hält. Hier wie dort finden sich neben Allgemein- und Fachärzten, Physiotherapeuten und Heilpraktikern auch beispielsweise Ernährungsberater, Entspannungstherapeuten, Yoga- und Qi Gong-Lehrer sowie Wellnesstherapeuten. Allerdings arbeiten diese in der Kurregion häufig zusammen in derselben Praxis, beziehungsweise bieten einzelne Personen verschiedene Gesundheitsdienstleistungen an, die teilweise als medizinische Behandlungen, teilweise als Wellnessbehandlungen angesehen werden können.
Eine zu überprüfende Hypothese wäre hier, ob durch die sich stark verändernden Rahmenbedingungen im Gesundheitssektor gerade in Kurregionen verstärkt heterodoxe Heilmethoden nachgefragt werden und dies wiederum auf die Praxis der medizinischen Akteure rückwirkt. Dies führt mich zu einer zweiten Frage:
Hat es eine Veränderung in der Wahl der Behandlungsmethoden gegeben und, wenn ja, aus welchen Rationalitäten heraus kam es zu dieser Entscheidung?

Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, möchte ich eine empirische Fallstudie im Mikrokontext der Kurregion Rottaler Bäderdreieck (nahe Passau) durchführen. Durch Beobachtungen im Feld, eigene Teilnahme an Kurangeboten, wie bspw. Thermenbesuche und Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleitungen, der aktiven Mitarbeit in einem Thermalbadbetrieb im Rahmen einer Hospitanz, sowie durch leitfadengestützte Experteninterviews lässt sich, so hoffe ich, ein präzises Bild davon zeichnen, wie sich die Akteure im Feld auf die sich wandelnden Arbeitsbedingungen eingestellt haben und welche Konsequenzen sich daraus für die Heilberufe im Kurwesen ergeben.

Mit diesem im Fachbereich der Medical Anthropology angesiedelten Dissertationsprojekt möchte ich die Frage klären, wie sich die Kurmedizin durch die sich stark verändernden politischen Rahmenbedingungen und das Hinzutreten des neuen „Wettbewerbers“ Wellness auf dem medizinischen Markt verändert und so einen Beitrag zur kulturwissenschaftlichen Forschung im Schnittpunkt zwischen Medikalkulturforschung und Arbeitsforschung leisten.

 

Wissenschaftliche Veröffentlichungen:

  • Beobachtungen in der Münchner Jamszene – Transkulturelle Begegnungen im Hobbymusikerbereich? in: Sabine Hess, Maria Schwertl (Hg.), München Migrantisch – migrantisches München. Ethnographische Erkundungen in globalisierten Lebenswelten, München 2010, S. 135 – 146.
  • Wellness: Unhinterfragter Teil medizinischen Handelns? in: Curare, 36 (1+2/2013), S. 17 – 26.

Wissenschaftskommunikation:

  • Mitarbeit bei der Ausstellung „Im Abseits oder Mittendrin? 120 Jahre Herzogsägmühle“, Ausstellungseröffnung 2014, (LEADER in ELER-Projekt).
  • Mitarbeit bei der Recherche, Konzeption und Realisierung einer Dauerausstellung zur Geschichte des Klosterorts Aldersbach und seiner Gemeindeteile für das neue Kultur- und Begegnungszentrum in Aldersbach, Ausstellungseröffnung 2015, (LEADER in ELER-Projekt)

julian.hoerner@gmx.de