Institut für Empirische Kulturwissenschaften und Europäische Ethnologie
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Katrin Lehnert: Abstract Dissertationsprojekt

Mobile Grenzen und die Grenzen der Mobilität: Zur Konstruktion von Migration vor dem Hintergrund von Nationalisierung und Ökonomisierung der sächsisch-böhmischen Staatsgrenze im 19. Jahrhundert (AT)

Zwar gibt es keine allgemein gültige Definition von „Migration“, sie wird aber fast immer mit dem Überschreiten einer Grenze zwischen zwei administrativen Einheiten in Zusammenhang gebracht. Diese Tatsache stellt die Migrationsforschung vor spezifische Probleme. Der Stuttgarter Arbeitskreis für Historische Migrationsforschung bemerkte bereits in den 1990er Jahren, dass die Vielgestaltigkeit und der historische Wandel von Grenzen jede Begriffsbestimmung von Migration schwierig machen. Die neuere sozialwissenschaftliche Migrationsforschung scheint insbesondere mit der Vorstellung transnationaler sozialer Räume einen Ausweg aus diesem Dilemma aufzuzeigen: Migration wird jenseits klarer Dichotomien und Grenzziehungen als komplexe multilokale und zirkuläre Aktivität innerhalb sozialer Netzwerke konzipiert. Daran anschließend stellt sich jedoch die Frage, wie sich der Begriff der „Migration“ von anderen Formen der Mobilität, insbesondere von derjenigen einer als „sesshaft“ imaginierten Bevölkerung, unterscheiden lässt. Wahrscheinlich ist, dass die Beantwortung dieser Frage wiederum auf territoriale Grenzen und die mit ihnen verbundenen Rechtsformen verweist.

Diesem Problem widme ich mich in meinem Dissertationsprojekt am historischen Beispiel der Grenzregion zwischen Sachsen und Böhmen im 19. Jahrhundert. Mobilität wird von der Grenze aus gesehen und gefragt, ob die staatliche Trennungslinie eine Mobilität sichtbar macht, die auch und gerade die als „sesshaft“ bezeichneten Gesellschaftsmitglieder betraf. Die transnationale Perspektive wird dabei auf kleinräumige Strukturen übertragen. Als Untersuchungsmaterial dienen in erster Linie administrative Quellen, die Aufschluss über die Etablierung und Wahrnehmung der territorialen Grenze und über grenzüberschreitende Praktiken geben.

Das Untersuchungsmaterial zeigt, dass vor der Hochindustrialisierung kleinräumige Alltagsmobilitäten innerhalb weit verzweigter ökonomischer und sozialer Netzwerke im ländlichen Untersuchungsraum dominierten. Untrennbar verknüpft mit den Praktiken der mobilen Akteure ist der staatliche Versuch einer Regulierung von Mobilität, die der Staatsgrenze die Funktion biopolitischer Machtausübung übertrug. Gleichzeitig übernimmt die Staatsgrenze eine wichtige Funktion in der Herausbildung kapitalistischer Konkurrenz. Die historische Besonderheit liegt in der Tatsache, dass die staatliche Grenze zwischen Sachsen und Böhmen in der Mitte des 19. Jahrhunderts zeitgleich zu ihrer Nationalisierung und Ökonomisierung neu verlegt wurde und somit vielfältige Probleme konfessioneller, identitärer, staatsrechtlicher und ökonomischer Natur aufwarf. Solche Konflikte und die Versuche ihrer Bewältigung liefern Erkenntnisse über die Etablierung der Staatgrenze, verweisen aber auch auf ihre permanente Überschreitung. Die Erforschung dieses Spannungsfeldes soll zum Verständnis der Genealogie von Grenz- und Migrationsregimen im Sinne einer Dichotomisierung von Mobilität und Sesshaftigkeit beitragen.