Institut für Empirische Kulturwissenschaften und Europäische Ethnologie
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Anja Kittlitz Abstract Dissertationsprojekt: Migration Macht Schule. „Schulanaloger Unterricht für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“

Nach Angaben des Bundesfachverbandes für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e. V. lebten 2011 knapp 34.000 Jugendliche im schulpflichtigen Alter und mit ungesichertem Aufenthaltsstatus in der Bundesrepublik Deutschland. Weder existiert für als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge markiete Jugendliche allerdings eine bundesweite einheitliche Regelung des Schulbesuchs noch wird einer flächendeckenden Einrichtung entsprechender (Sprach)Förderklassen Vorschub geleistet. Während etwa in Bayern für unter 16-jährige „Flüchtlinge“ prinzipiell die Möglichkeit eines Regelschulbesuchs besteht, wird ein (weiterführender) Schulbesuch über die geltende Schulpflicht hinaus nur selten angeboten. Sowohl allgemeinbildende Schulen als auch  Berufsschulen sind nicht auf die Beschulung dieser Lernergruppe ausgerichtet, der Staat bietet kaum flexible Möglichkeiten, einen Schulabschluss zu erlangen. Der Zugang zu Bildung erweist sich damit vor allem für das Alterssegment 17 bis 25 Jahre als äußerst eingeschränkt, nicht selten steht die Residenzpflicht Aus- und Fortbildung im Weg.

Mit dem Ziel, dieser Problemlage entgegenzuwirken, wurde im Jahr 2000 von VertreterInnen der Münchner Flüchtlingsszene das Sprachschulprojekt „SchlaU“ (schulanaloger Unterricht für junge Flüchtlinge) ins Leben gerufen. Die mittlerweile staatlich anerkannte Ergänzungsschule bietet unter Bezugnahme der UN-Kinderrechtskonvention seit 2004 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen im Alter von 16 bis 21 Jahren zudem die Möglichkeit, in Kooperation mit einer staatlichen Mittelschule den Erfolgreichen Hauptschulabschluss (HASA) sowie den Qualifizierenden Hauptschulabschluss (QUALI) zu erlangen. Ab dem Schuljahr 2012/2013 wird das Höchstalter auf 25 Jahre angehoben. Insgesamt werden derzeit circa 200 SchülerInnen gemäß eines offenen Schulsystems analog zum offiziellen Fächerkanon der Mittelsschule in insgesamt 15 Klassen von 20 Lehrkräften und einem sozialpädagogischen Team betreut.

Das hier vorgestellte Dissertationsprojekt strebt an, am Beispiel der eben skizzierten SchlaU Schule München, einen kulturwissenschaftlichen Beitrag zur interdisziplinären Schul- und Bildungsforschung zu leisten, der eng mit den Debatten um „Asyl“ und „Integration“ in der qualitativen Migrationsforschung verknüpft ist. Durch den Perspektivenreichtum einer ethnografischen Zugangsweise soll das im Entstehen und im Wandel begriffene soziokulturelle Phänomen der „Sprach-/Flüchtlingsschule“ erfasst werden. Forschungsleitend wird gefragt, wie die Institution „Schule“ außerhalb des staatlichen Schulsystems im Kontext von Asyl- und Integrationsdebatten funktioniert und was das für den Akteur des Lehrenden und des Lernenden bedeutet.
Das Forschungsdesign des Projektes ist als empirische Schulforschung konzipiert, die konsequent die Ebenen von Makro, Meso und Mikro zueinander in Bezug setzt. Es wird mit einem ergebnisoffenen, induktiven Zugang operiert, der eine situationsanalytische Entschlüsselung des  Alltagslebens der Schule anstrebt. Mit dem Blick auf translokale Verbindungslinien ist der Forschungsrahmen allerdings nicht mit dem physischen Gebäude „Schule“ gleichzusetzen. Vielmehr dient dieses als Ausgangpunkt einer Multisited-Forschung, wie sie George Marcus vertritt. Die besondere Relevanz des Projektes liegt damit im Vergleich zu bisherigen Studien in der ethnografischen Perspektive auf Schule als Institution, verstanden nicht als räumlich geschlossener Kosmos, sondern als dynamisches Wissensnetzwerk. Gleichsam ist die hier betrachtete Schule als Novum der deutschen Bildungslandschaft zu verstehen, das Ausdruck eines gesellschaftlichen Transformationsprozesses im Umgang mit Flüchtlings- und Bildungsthematiken ist, was diese Studie als Zeitdokument bedeutsam macht sowie ihr eine hohe aktuelle Praxisrelevanz verleiht.

Mit dem Vorgehen dieser Studie kann es im Speziellen geleistet werden, entgegen einer Affirmierung der sozialen Figur des unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings, der in vielen Publikationen Vorschub geleistet wird, entgegen einer „nationalen Ontologie des Sozialen“ (Hess/Moser 2009: 19) und entgegen einer kulturessentialistischen Auffassung eines „Wir“ und die „Anderen“, „geteilte, situative, thematisch wie auch strategisch variierende Aufmerksamkeiten, Zugehörigkeiten, Solidaritäten und Beheimatungen“ (ebd. 2009: 20) in ihrer diskursiven und handlungspraktischen Entstehung zu zeigen, die schulische soziale Wirklichkeiten in ihrer kaleidoskopartigen Zusammensetzung prägen – nicht auch zuletzt, um die Institution „Schule“ aus postkolonialer Perspektive mit ihren Praxen und Verantwortlichkeiten zu konfrontieren.

Betreuer: Prof. Dr. Johannes Moser