Institut für Empirische Kulturwissenschaften und Europäische Ethnologie
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Anja Decker: Dem Wandel begegnen, den Wandel verhandeln und steuern: Alltagsarrangements, Identitäten und Agency im ländlichen Böhmen.

Der ländliche Raum, seine Nutzung und Wahrnehmung, aber auch die Alltagsarrangements und Selbstbilder seiner BewohnerInnen erleben gegenwärtig vielschichtige und mitunter gegenläufige Transformationsprozesse, die zunehmend von Sozial- und KulturwissenschaftlerInnen in den Blick genommen werden. Gesellschaftlicher Wandel und technische Innovationen wie Entgrenzungen in der Arbeitswelt, Europäisierung, Globalisierung, sanfter Tourismus, Digitalisierung etc. verändern die Handlungsmöglichkeiten, Machtverhältnisse und Selbstpositionierungen in boomenden wie in schrumpfenden Dörfern. Dies beeinflusst die Strategien der Alltagsorganisation, Existenzsicherung und Beheimatung der ländlichen Bevölkerung, produziert veränderte Logiken und Narrative und schafft neue Konfliktfelder und Grenzziehungen. Ländlichkeit, landwirtschaftliche Arbeit und ländlicher Raum erweisen sich dabei auch als sinnlich hochaufgeladene Kategorien, die inszeniert, kommodifiziert und ästhetisiert werden, wie etwa der aktuelle Erfolg von Bauern- und Landmärkten, sowie die Etablierung von Agrartourismus und Regionalmarken zeigen. Zugleich sind diese Kategorien Bezugsrahmen über die in urbanen wie ruralen Kontexten Fragen nach dem guten Leben ausgehandelt werden.
Das Dissertationsprojekt untersucht dieses Problemfeld exemplarisch anhand der Alltagsarrangements, Identitäten und Agency von neuen, temporären und langjährigen BewohnerInnen und BesucherInnen einer jahrzehntelang peripherisierten ländlichen Region in Westböhmen (Tschechische Republik). Die Region gehört zum ehemaligen Sudetengebiet, erlebte durch die schwierige Wiederbesiedlung nach der Vertreibung der deutschen Bevölkerungen einen massiven EinwohnerInnenrückgang und zählt heute zur ‚inneren‘ Peripherie und damit zu den ländlichen ‚Problemregionen‘ des dichtbesiedelten und hochindustrialisierten Landes. Die Ethnographie untersucht vor diesem Hintergrund mittels qualitativer Interviews und teilnehmender Beobachtung, woran unterschiedliche soziale Milieus mehrerer benachbarter ländlicher Gemeinden ihre Handlungsfähigkeit bzw. -unfähigkeit festmachen, wie sie ihre Existenzsicherung gestalten und deuten und wie sie ihre soziale Position verhandeln. Es interessiert insbesondere, welche (historischen, räumlichen und sozialen) Referenzpunkte Akteure mit unterschiedlicher Ressourcenausstattung in diesem Prozess heranziehen und welche Vorstellungen von Ländlichkeit und dem guten Leben ihre alltäglichen Praxen und Deutungsmodelle prägen. Die Themensetzung berührt Fragen der ländlichen Identität, des Umgangs mit (begrenzten) Ressourcen, sozialer Ungleichheit sowie der Nutzung, Repräsentation und Wahrnehmung des (lokalen) ländlichen Raums im Kontext einer zunehmenden Diversifizierung ländlicher Räume.
Betreuung: Prof. Dr. Irene Götz, PD Dr. Leonore Scholze-Irrlitz

Publikationen:
Decker, A., 2017. Ein tschechischer Kleinstbauer zwischen Subsistenz- und Warenproduktion. Überlegungen zur Rolle der Kleinstlandwirtschaft im Kontext der Prekarisierung ländlicher Lebenswelten. Berliner Blätter 74: 63-80.
Bernard, J., Decker, A., Mikešová, R., Vojtíšková, K. 2016. Living and Dealing with Limited Opportunities: Social Disadvantage and Coping Strategies in Rural Peripheries. Sociální studia/Social Studies, 13(2): 29-53.
Decker, A., Trummer, M. 2016. Arbeit, Mobilität und Lebensgestaltung in ländlichen Regionen Westböhmens und Ostbayerns. Eine vergleichende Ethnographie. In: Milan Hlavačka/Robert Luft/Ulrike Lunow (Hg.): Tschechien und Bayern. Gegenüberstellungen und Vergleiche vom Mittelalter bis zur Gegenwart. München: 345-358.