Institut für Empirische Kulturwissenschaften und Europäische Ethnologie
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Franz Schürle: Abstract Dissertationsprojekt

(Selbst)Organisierung von Erwerbslosen und prekär Beschäftigten. Eine ethnografische Studie zum Einfluss arbeitsmarktpolitischer Restrukturierungen auf Arbeits- und Lebenswelten unter besonderer Berücksichtigung von Gender-Effekten.

Mit der Agenda 2010 wurden in Deutschland einschneidende Änderungen im Arbeitsmarkt und der Sozialpolitik vorgenommen: Heute sind die Übergänge zwischen einer „klassischen“ Vollzeiterwerbsarbeit, veränderten Formen der Lohnarbeit und neuen Beschäftigungsverhältnissen, wie auch der Erwerbslosigkeit so fließend wie noch nie. Die Flexibilisierung von Arbeit, die „Entwertung von Erfahrung“ (Sennett) und fortschreitende Entgrenzung von Arbeits- und Lebenswelten bedeuten für viele, gerade weniger qualifizierte und ältere Arbeitnehmer*innen vielgestaltige strukturelle Herausforderungen, sowie emotionale Belastungen. Gleichzeitig werden Stammbelegschaften und Gewerkschaften durch die Einstellung von „aktivierten“ und „bedarfskompatiblen“ (Lessenich) Beschäftigen z.B. Leiharbeiter*innen und (Schein)Selbstständige unter Druck gesetzt, Lohnkürzungen und Disziplinierungen hinzunehmen.

Vor allem in prekärer Beschäftigung und Erwerbslosigkeit zeigt sich das neue, aktivierende Arbeitsethos, welches Risikobereitschaft und „Selbstunternehmertum“ (Voss/Pongratz) als Leitwerte einer veränderten Kultur preist sowie einfordert. Ein besonderes Problem stellt dabei dar, dass Erwerbslose und prekär Beschäftigte bislang kaum (den öffentlichen Diskurs prägende) politische Interessenvertretungen etablieren bzw. nicht an Diskussionen und Entscheidungen bestehender Organisationen teilnehmen konnten (Nowak) oder sich hier, aus welchen Gründen auch immer, nicht einbezogen fühlten.

Erwerbslose und prekär Beschäftigte bilden die Akteur*innen des Feldes des von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Promotionsvorhabens. In der laufenden ethnografischen Einzelfallstudie in Stuttgart werden in Initiativen für Erwerbslose und prekär Beschäftigte engagierte Personen begleitet und die unterschiedlichen subjektiven Aushandlungsprozesse mit eben angesprochenen Veränderungen einer sich wandelnden Arbeitswelt und entsprechenden Verhaltensarrangements herausgearbeitet, wie auch mögliche Formen der Bildung von Interessenvertretung erforscht: (Selbst)Organisierung wird erstens im Sinne einer „Selbstführung“ (Foucault) der Akteur*innen und ihrer jeweiligen Lebens- und Arbeitsentwürfe verstanden. Im Gang zum Jobcenter, dem nächsten Mini-Job oder der nächsten Beschäftigung auf einem „sozialen Arbeitsmarkt“ zeigen sich die konstitutiven Wirkweisen des neuen Arbeitsmarktregimes und der verstärkte Rückgriff auf Moral in dem sozialstaatlichen Diskurs über die Aktivierungsimperative (Lessenich).

Die Fragestellung der Forschung richtet sich dabei zweitens auf mögliche Oppositionen zu den Selbstoptimierungszwängen und auf eine (Selbst)Organisierung der Betroffenen als politische Akteur*innen: Welche Formen der Organisierung bestehen, welche werden gebildet? Welche Formen von Teilhabe und Herstellung von Gemeinschaftssinn werden erkannt und gelebt, wenn ehemalige Strukturen nicht mehr tragen (z.B. das Versprechen auf Arbeit und Wohlstand, vgl. Götz, Castel). Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf milieu- und vor allem auch geschlechterspezifischen Ursachen prekärer Arbeit und der möglichen Differenz von Frauen und Männern im Umgang mit der prekären Lage.

Der theoretische Ausgangspunkt der Forschung liegt in der Verbindung wissenschaftlicher Analysen von Arbeit und Nicht-Arbeit (Herrlyn/Müske u.a.): Das Forschungsdesign wird an den gegenwärtigen fluiden Verhältnissen, die sich mit dem Wandel der Arbeitswelt ergeben haben, ausgerichtet. Mit der Methode der „Sozial- und Kulturanalyse“ (Bogusz), d.h. einer Verbindung sozialstruktureller Analyseverfahren mit einer Methodenvielfalt der Alltagsbeschreibung und einer „gegenstands- und erfahrungsbezogenen Theoriebildung“ (Götz), wie sie in ethnografischen Einzellfallstudien möglich wird, können soziale Praxen der Akteur*innen und individuelle Wahrnehmungsweisen der Prekarisierungserfahrung in Bezug zu gesellschaftlichen Verhältnissen gesetzt und gedeutet werden. Gesellschaftliche Realitätskonstrukte können dechiffriert und mögliche Beziehungsnetze mit Schwerpunkt auf die Akteursperspektiven dargestellt werden (Götz/Wittel).

Betreuerin: Prof. Dr. Irene Götz

Förderung: Hans-Böckler-Stiftung

Email: F.Schuerle@campus.lmu.de