Istanbul – Urbane Kultur, Praxen und Repräsentationen (28. Juli ‒ 7. August 2010)
Das Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München veranstaltete unter der Leitung von Dr. Derya Özkan und Dr. Daniel Habit vom 28. Juli bis zum 7. August 2010 eine Exkursion nach Istanbul. Als Forschungsfeld für Europäische Ethnologen bietet sich Istanbul aus verschiedenen Gründen an, da sich mehrere inhaltliche Kernpunkte des Faches exemplarisch im urbanen Gefüge der Stadt manifestieren und damit einer volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Analyse zugänglich sind. Diese Schwerpunkte wurden in einem im Sommersemester 2010 stattfindenden Seminar am Institut vorbereitet und vertieft.
Neben einer historischen Einordnung der Stadt in nationale und globale Zusammenhänge und einem Überblick über bisherige kulturwissenschaftliche Zugänge zum Stadtgefüge wurde die (aktuelle) Stadtentwicklung in Hinblick auf Transformations- und Gentrifizierungsprozesse sowie alltägliche Lebens- und Arbeitswelten in den Mittelpunkt gestellt. Durch die konzeptionelle Gegenüberstellung von „altem“ und „neuem“ Istanbul wurde die Historizität der Stadt und die sich aus der spezifischen Stadtbiographie ergebenden Entwicklungslinien und -brüche herausgearbeitet. Darüber hinaus wurden vor dem Hintergrund des Titels der „Istanbul - Kulturhauptstadt Europas 2010“ die vielschichtigen Konstruktions- und Repräsentationsstrategien Istanbuls beleuchtet, die sich neben dem im Kulturhauptstadtjahr stattfindenden Kulturprogramm auch in einer Vielzahl von literarischen, künstlerischen und medialen Auseinandersetzungen mit der Stadt widerspiegeln. Gerade das Kulturhauptstadtjahr bietet sich an um den Touristifizierungsprozessen und Inszenierungsdiskursen im urbanen Kontext nachzuspüren und die Auswirkungen dieser kulturpolitischen Maßnahmen der Europäischen Union auf das Selbstverständnis der Stadt, der politischen und gesellschaftlichen Akteure sowie der Bewohner als auch Besucher zu untersuchen. Dabei wurde auch der Diskurs über das Verhältnis zwischen der EU und der Türkei hinsichtlich eines möglichen Beitritts behandelt und die Rolle der Metropole Istanbul im Spannungsgefüge der vielschichtigen Europäisierungs- und Modernisierungsprozesse erarbeitet. Diese Recherchen beschränkten sich nicht nur auf innerstädtische Bereiche, sondern bezogen gerade auch marginalisierte Viertel, periphere Gebiete und „blinde Flecken“ der Stadt mit ein, um so die Heterogenität des Feldes besser eingrenzen zu können. Neben der Anreise und den organisatorischen Formalitäten diente der erste Tag der Exkursion dazu, sich einen groben Überblick über die Ausmaße des städtischen Raums und die stattfindenden Wandlungsprozesse gerade auch in den peripheren Gebieten zu schaffen.
Der Bustransfer vom Flughafen zum in der Innenstadt gelegenen Hotel eignete sich dafür sehr gut, da so auch die Bebauung des Raums erfahren werden konnte. Der darauffolgende Tag war zunächst für die touristischen Höhepunkte Istanbuls reserviert (Hagia Sophia, Sultanahmet Moschee, Zisternen, Topkapi), beinhalten, um so nach den Touristifizierungsprozessen und dem Umgang mit dem kulturellen Erbe der Stadt als auch der Nation fragen zu können, die gerade im Kulturhauptstadtjahr eine entscheidende Rolle in der Produktion städtischer Images spielen. Am Abend stand ein Workshop mit Ayca Ince auf dem Programm, die über Gentrifizierungsprozesse in verschiedenen Istanbuler Stadtvierteln berichtete und dabei besonders auf den Wandel der Bevölkerungsstruktur einging. Der Vormittag des nächsten Tages befasste sich mit „alten“ Stadtvierteln wie Karaköy, Beyoglu und Galata, um die städtebaulichen Grundlagen der am Vormittag erarbeiteten Diskurse auf ihre Alltagsdimension hin zu befragen und mögliche Spannungsfelder zwischen gewachsenen Stadtverständnissen und neuen Umnutzungsstrategien aufzudecken. Neben einem Besuch im Orient-Institut und einem Gespräch mit Filiz Kiral ermöglichte die anschließende Gesprächsrunde mit der Marketing-Abteilung des Kulturhauptstadtbüros einen dezidierten Einblick in die Strukturen und das Selbstverständnis des Veranstaltungsjahres. Dabei stand vor allem auch der Blick auf das türkische Selbstverständnis und die dazugehörigen Inszenierungspraxen im Vordergrund, die auch bei einem Besuch des Museums „Istanbul Modern“ thematisiert wurden. Den Abschluß des Tages bildete ein Ausflug auf die Prinzessinen-Inseln und die damit verbundene Frage nach dem Entstehen eines innerstädtischen Tourismus sowie den entsprechenden Schichten und Milieus.
Am darauffolgenden Samstag trafen die Studierenden nach einem Rundgang über den Großen Bazar mit ihren „Field Research Assistants“ zusammen, mit denen sie die im Seminar vorbereiteten Feldforschungsaufgaben erarbeiteten. Der Sonntag war neben einem Rundgang durch den neu entstandenen Business District Levent Maslak und die dazugehörigen Konsumwelten einer Besichtigung des asiatischen Teils gewidmet, bei der die vielfältigen urbanen Transformationsprozesse der letzten Jahre im Fokus standen. Neben der Besichtigung eines zentralen Friedhofes besuchten wir am nächsten Tag das Stadtviertel Eyüp, dass durch seine starke muslimische Prägung in krassem Gegensatz zu den bis dahin erfahrenen Stadtvierteln stand; der Nachmittag dieses Tages war wiederum der studentischen Feldforschung gewidmet. Die beiden darauffolgenden Tage beschäftigten wir uns unter der Leitung von Orhan Essen mit Gentrifizierungs- und Transformationsprozessen, die Istanbul durch den massiven Bevölkerungszuwachs seit dem Zweiten Weltkrieg durchlebt hat und die das Bild der Stadt massiv beeinflusst haben (von 900.000 auf 17 Millionen Einwohner). Beide Tage wurden von zwei Workshop Einheiten in der Kadir Has Üniversitesi begleitet, bei denen Tuna Kuyuco über Umsiedlungsprojekte bzw. Banu Karaca über das Kulturhauptstadtjahr referierten und die Grundlage für eine intensive Diskussion legten. Der nächste Tag stand den Studenten für den Abschluß ihrer Feldforschung zur Verfügung, die sie am Abend im Plenum präsentierten.
Der Freitag diente zur Erkundung zweier weiterer Stadtviertel (Kadiköy und Besiktas), an die sich eine Bootstour entlang des Bosporus anschloss. Nach der Rückkehr nach München und dem Verfassen der Seminararbeiten wurden die Ergebnisse im Rahmen eines Istanbul-Abends den Dozenten und Studenten des Instituts für Volkskunde /Europäische Ethnologie präsentiert. Sowohl von Seiten der Studierenden als auch von Seiten der Dozenten wurde diese Exkursion als großer Erfolg wahrgenommen, da die intensive Auseinandersetzung mit dem städtischen Raum und die unterschiedlichen Gesprächspartner vor Ort einen profunden Einblick in die Transformationsprozesse Istanbuls geliefert haben, die sowohl qualitativ als auch quantitativ einzigartig in Europa sein dürften und den Studierenden damit ein nachhaltiger Einblick in fachliche Forschungsansätze als auch potentielle Berufsfelder geboten werden konnte.