Institut für Empirische Kulturwissenschaften und Europäische Ethnologie
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"Mitteldeutschland" - Transformationsprozesse und Kulturelles Erbe (2.‒9. November 2008)

Die vom 02. bis 09. November 2008 von Irene Götz und Barbara Lemberger durchgeführte Exkursion stand unter der Perspektive „Transformationsprozesse und Kulturelles Erbe in Mitteldeutschland“. Leitthema der Exkursion war die Erkundung von Transformationsprozessen in der Nach-Wende-Zeit, z.B. von (ehemaligen) Industriestandorten und -gebieten. Hier ging es um die Frage, wie mit industriellen und auch geschichtlichen „Kulturdenkmälern“ umgegangen wird, insbesondere auch darum, was aktuell zu „kulturellem Erbe“ erhoben und als solches präsentiert, inszeniert und vermarktet wird. So wurden Beobachtungen dazu angestellt, wie „Kulturproduktion“ im Rahmen von „Heritifizierung“ stattfindet, die gerade in stärkungsbedürftigen Regionen in besonderer Weise aus der Vergangenheit schöpft. Auch die z.B. über den „Mitteldeutschen Rundfunk“ und andere kulturelle Formen neu konstruierte Region „Mitteldeutschland“, die hier auf tradiertes „kulturelles Erbe“ des Regionalen zurückgreifen konnte, bildete ein Leitmotiv der Exkursion.

Die erste Station und ein Paradebeispiel für „Kulturproduktion“ war hierbei Nebra in der Saale-Unstrut-Region, dem Fundort der „Himmelsscheibe“. Die ästhetische und narrative Inszenierung um das bronzezeitliche Artefakt durch eine aufwändige Architektur eines von Privathand getragenen Museums am Fundort und den Erzählungen der Wanderführerin auf dem Gelände des „Mittelbergs“ kann hierbei beispielhaft für die Aufwertung einer strukturschwachen Region durch „kulturelles Erbe“ gesehen werden, zumal durch ein „Erbe“ aus der „unschuldigen“ deutungsoffenen Vor- und Frühzeit, die in der sozialistischen Kulturpolitik nicht vereinnahmt war. In Naumburg, der nächsten Station, erhielten wir durch Dr. Sigfried Wagner nicht nur einen Einblick in die Geschichte dieser ehemaligen Beamtenstadt, die heute mit fehlender Industrie und Arbeitgebern zu kämpfen hat, sondern auch in die Arbeit des Stadtmuseums „Hohe Lilie“, das Dr. Wagner leitet. Erst kürzlich wurde die Dauerausstellung neu konzipiert, ebenso das Haus selbst saniert, wobei dem Museumsleiter die Trennung von Gebäudegeschichte und Ausstellung wichtig war, so dass keine „Möblierung“ des Gebäudes vorgenommen wurde. Eine weitere Station in Naumburg bildete der Dom: Dieses Kulturdenkmal erfuhr eine zum Teil in der Öffentlichkeit umstrittene „Aufwertung“, indem die drei Fenster der Elisabeth-Kapelle durch den zeitgenössischen Maler Neo Rauch gestaltet wurden. Der Abendtermin widmete sich dem Thema des regionalen Weinbaus. Bei einer Verköstigung verschiedener Sorten aus dem Saale-Unstrut-Gebiet informierte uns der Vorsitzende der Deutschen Weinbaugesellschaft e.V. umfassend zu den Themen Weinanbau zu DDR-Zeiten, zum Stellenwert des „Ost-Weins“ für die Identität der Region und auf dem internationalen Markt sowie natürlich über die „Kunst“ der nicht-industrialisierten Arbeit des kleinen nebenberuflich tätigen Winzers. Jena bildete die nächste Station. Ein in dritter Generation tätiger „Zeissianer“ sowie der Unternehmensarchivar Dr. Wimmer informierten uns bei Carl Zeiss Jena GmbH nicht nur über die Produkte und die Geschichte des Unternehmens, sondern auch über die engen Verflechtungen des Werks mit der Stadt Jena, insbesondere im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, da das Unternehmen wichtige öffentliche Einrichtungen ermöglichte und unterhielt, etwa das Planetarium, ein Volksbad, und klinische Einrichtungen. Nach der Wende blieb Zeiss Jena in der Region trotz der Umstrukturierungen des Werks mit den Entlassungswellen ein wichtiger Arbeitgeber, der allerdings in Jena, die derzeit auch als Wissenschaftsstadt Erfolge verzeichnet und Arbeitsplätze schafft, nicht mehr das identitäre und ökonomische Alleinstellungsmerkmal hat.

Am Nachmittag erhielten wir eine Führung durch Prof. Dr. Köhle-Hezinger und eine Doktorandin durch die „sozialistische Stadt“, anschließend wurde unsere Exkursionsgruppe am Institut für Volkskunde mit selbst gebackenen Thüringer Spezialitäten verköstigt und umfassend über die Bedeutung dieses einzigen universitären Volkskunde-Instituts in den neuen Bundesländern für die Region informiert. Tags darauf waren wir zu Gast am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle, wo uns zunächst Prof. Dr. Chris Hann und Dr. Bettina Mann empfingen und uns Ziele, Arbeitsweisen und Projekte des Instituts präsentierten. Im Anschluss diskutierten wir mit einer Mitarbeiterin der Forschergruppe „Religion und Moral in Ostdeutschland“ über ihr Forschungsprojekt zu evangelikalen Gruppen. Weiterhin besuchten wir das Halloren- und Salinemuseum, wo uns dessen langjähriger Leiter Herr Just die historische und gegenwärtige Bedeutung der Halloren für das regionale Selbstverständnis nahebrachte und in das Geheimnis des Salz-Siedens einführte. Abends verschafften wir uns über ein schwindendes und unter Hallensern gegenwärtig umstrittenes „kulturelles Erbe“ aus DDR-Zeiten einen Überblick, nämlich über das vom derzeitigen Bevölkerungsrückgang in Ostdeutschland besonders stark betroffene Halle-Neustadt, deren Plattenbautürme zum Teil komplett leer stehen und von Fragen des Rückbaus betroffen sind. Ein weiterer Höhepunkt unseres Besuchs in Halle war die Begegnung mit Frau Dr. Annette Schneider von der Sächsischen Kommission für Volkskunde e.V./Landesbund Sachsen, die uns im „Haus des Lehrers“ über ein rezentes EU-Forschungsprojekt informierte. Hier untersuchte sie im Gebiet „Dübener Heide“ subjektive Bedeutungen von „Heimat“ insbesondere bei Jugendlichen und zeigte deren starke Bindung an dieses von einer traditionellen Erholungslandschaft geprägten Gebietes auf.

Nachmittags erkundete unsere Gruppe den von der UNESCO zum „Weltkulturerbe“ erhobenen Landschaftspark Dessau-Wörlitz. Fürst Leopold Friedrich Franz von Anhalt legte das Gelände im 18. Jahrhundert unter der aufklärerischen Devise „Das Nützliche mit dem Schönen verbinden“ an, heute firmieren zumindest Teile des Parks aufgrund der industriellen Zersiedelung seit dem 19. Jahrhundert unter dem Namen „Industrielles Gartenreich“. Zurück über die Ortschaft Vockerode, dem Sitz eines für die Energieversorgung wichtigsten und prestigeträchtigsten Kraftwerks der DDR und Ort einer kulturwissenschaftlichen Studie von Dr. Regina Bittner, die uns am nächsten Tag in der „Stiftung Bauhaus Dessau“ erwartete, steuerten wir Dessau an. Die ehemals blühende Residenzstadt erfuhr in den letzten 100 Jahren radikale Veränderungen durch Industrialisierung, Kriegszerstörung, Wiederaufbau nach sozialistischen Maßstäben und seit der Wende durch Abwanderung und Leerstand. Zunächst brachte uns eine Führung durch die „Hochschule für Gestaltung-Bauhaus-Dessau“ das Gebäude selbst nahe, das 1926 nach Entwürfen von Walter Gropius erbaut wurde und als Klassiker der Moderne Maßstäbe gesetzt hat. Wir erhielten nicht nur einen unmittelbaren Eindruck von den architektonischen und gestalterischen Spezifika dieser Schule, sondern auch von den Lehrer-SchülerInnen-Beziehungen und Lebensweisen der Bauhaus-Zugehörigen („Bauhaus lebte man“) und informierten uns über das eher gespaltene Verhältnis zwischen „Bauhaus“ und „Dessauer Bevölkerung“. Heute beherbergt die „Stiftung Bauhaus Dessau“ das Hauptbüro der „IBA Stadtumbau Sachsen-Anhalt 2010“ sowie einen interdisziplinären Aufbaustudiengang am „Bauhaus Kolleg“. Mit der Stadtplanerin Frau Dr. Beeck besichtigten wir in Dessau-Rosslau ein IBA-Projekt, das das Ziel verfolgt, die Stadtstruktur angesichts des massiven Leerstandes so umzubauen, dass die dann begrünten Rückbauflächen zu einem neuen Landschaftszug zusammengefasst und zugleich die verbleibenden urbanen Kerne gestärkt werden. Die IBA-Arbeit folgt dabei dem Prinzip, die Bewohner der jeweiligen Städte an den Umbaumaßnahmen zu beteiligen, was in Dessau-Rosslau etwa durch Wahrnehmungs- und Stadtspaziergänge geschieht. Dr. Regina Bittner erläuterte uns dann im Anschluss das Programm und die Arbeitsweisen des interdisziplinär und international angelegten „Bauhaus Kollegs“, das sich mit stadtanthropologischen Themen aus transnationaler Perspektive befasst. In Leipzig, unserem letzten Halt, gingen wir einem weiteren Kulturerbe nach, der Leipziger Messe. Das Messe-Privileg reicht bis ins 15. Jahrhundert zurück, zu DDR-Zeiten blieb die Stadt für den Ost-West-Handel der bedeutendste Messeort, 1996 wurde die „Leipziger Messe GmbH“ an einem neuen Ort außerhalb des Stadtzentrums eröffnet. Interessant hinsichtlich der architektonischen Gestaltung ist, dass die Architekten, bei der Gestaltung des Verwaltungsgebäudes starke Anleihen an die Architektur des Leipziger Bahnhofs genommen haben. Der Nachmittag widmete sich der Frage nach der musealen Erinnerung an die DDR- Geschichte am Beispiel des „Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig“ mit Sitz im Stadtzentrum, einer Außenstelle des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Bonn. Den Abschluss der Exkursion bildete das Völkerschlacht-Denkmal, das seit seiner Erbauung von den verschiedenen politischen Regimes – insbesondere im Kaiserreich, der Zeit des Nationalsozialismus und in der DDR – jeweils für die eigenen Vorstellungen von nationaler Identitätspolitik in den Dienst genommen wurde und heute sogar zur Interpretation des Prozesses der Europäischen Einigung herhält.

Besonderer Dank für die großzügige Unterstützung der achttägigen Exkursion geht an die Münchner Vereinigung für Volkskunde. Eine detailliertere Dokumentation unserer Forschungsreise (mit Bildern) befindet sich in der Institutsbibliothek.