Institut für Empirische Kulturwissenschaften und Europäische Ethnologie
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Stadtlandschaft Paris – Kulturwissenschaftliche Annäherungen (03.‒10. Oktober 2009)

Thematisch anschließend an eine Seminarveranstaltung von Prof. Dr. Burkhart Lauterbach im Sommersemester 2009 zum Thema „Stadtlandschaft Paris – Kulturwissenschaftliche Annäherungen“ führte die große Instituts-Exkursion des Jahres 2009 nach Paris. Das zusammen mit Daniel Habit M.A. und Christiane Schwab M.A. gebildete Leitungstrio war acht Tage lang mit 31 Studierenden unterwegs, vom 03. bis 10. Oktober 2009.

Paris, das ist die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts (Walter Benjamin), die Stadt, in der ab 1852 Napoléon III. und sein Präfekt Georges-Eugène Haussmann in beispielloser Weise massive Eingriffe in das historische Stadtbild vornehmen, dies im Sinne einer soziokulturellen Ordnungspolitik und unter Zuhilfenahme des Straßendurchbruchs, eines Prinzips, welches auf Vorbilder zurückgreifen kann: Die Umwandlung der noch weitgehend mittelalterlich geprägten Stadt im Europa des 19. Jahrhunderts geschieht durch Schleifen der Stadtmauern, also durch die Auflösung der räumlichen Geschlossenheit, durch ihre zunehmende Ausdehnung in das Umland, was die Bildung einer regelrechten Stadtlandschaft zur Folge hat, durch die ebenso zunehmende Herausbildung spezieller städtischer Bezirke, dies in Form von Wohnbezirken, Geschäftsbezirken, Industriebezirken, bürgerlichen Stadtteilen, proletarischen Stadtteilen. All das ist als Produkt der industriellen Revolution im Allgemeinen und der Transportrevolution im Zusammenhang mit der Erfindung und Einführung der Eisenbahn im Besonderen zu betrachten. Die Eisenbahn ist letztlich mit verantwortlich für die dichte Bebauung und die klare Gliederung der Städte, für die Veränderung der städtischen Physiognomie, auch für die sie begleitende Uniformisierung, Geometrisierung sowie Markierung etwa durch spezielle Gebäude. Um den reibungslosen Verkehr zu und zwischen den verschiedenen Bahnhöfen gewährleisten zu können, bedarf es eines neuen Netzes von Straßen. Prompt nimmt man die nächsten Eingriffe im Stadtbild vor. Veränderung der historischen Bausubstanz bedeutet in diesem Kontext stets zumindest partielle Vernichtung derselben und der dazugehörigen Alltagskultur. Dem neuartigen Verkehrsvolumen ist das Straßennetz der alten Städte nicht gewachsen, es muß also an die neuen Verkehrsbedürfnisse angepaßt werden. Und darin besteht genau jener Vorgang, der in Paris zu Haussmanns Zeiten passiert. Eisenbahndurchbruch und Straßendurchbruch gehören unmittelbar zusammen – und die dazugehörigen Folgen lassen sich besonders deutlich in Paris studieren.

Von derartigen Zusammenhängen ausgehend, verfolgte die Exkursion das Ziel, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Entwicklungen der Stadtlandschaft in situ zu studieren, die Industriekultur und die Arbeitskultur, den Ausbau zur nationalen und zur europäischen Metropole, die zunehmende Internationalisierung durch Migration, Kulturtransfer und touristische Aufbereitung des Stadtraums, zusammengenommen also die spezifische Stadtkultur, das, was man den „Habitus der Stadt“ nennen könnte.

Alle Teilnehmenden hatten im Vorfeld Objektpatenschaften übernommen, was dazu führte, daß wir en route stets kurze, aber prägnante Erläuterungen zu den einzelnen Objekten und ihren räumlichen, zeitlichen sowie sozialen Kontexten präsentiert bekamen, dies hauptsächlich entlang der thematischen Achsen: das alte Paris (Marais, jüdisches Viertel um Rue des Rosiers); die Königsachse von Paris und ihr Umfeld (vom Louvre-Palast bis zum Arc de Triomphe); Haussmanns Paris (Grands Boulevards, Kaufhäuser, Opéra Garnier, Passagen); das Paris der Weltausstellungen (Grand Palais, Petit Palais, Kanalisationsmuseum, Place du Trocadéro, Eiffelturm); Paris künstlerisch (Montmartre, Musée d’Orsay); Paris kosmopolitisch (Migrations-Museum, Große Moschee, Institut du Monde Arabe, Viertel La Goutte d’Or und Belleville); Paris kulturpolitisch (Gegend von ehemaligen Les Halles, Centre Pompidou, Cité des Sciences et de l’Industrie, Parc Buttes Chaumont); Paris futuristisch (Ausstellung „Le Grand Paris“); Paris ethnologisch (Musée du Quai Branly) und immer wieder Paris touristisch (Notre Dame, Quartier Latin...).

Zwei Nachmittage waren ethnographischen Übungen mittels Wahrnehmungsspaziergang, teilnehmender Beobachtung, Kurzinterview sowie Sammlung von Ton- und Bildmaterial gewidmet; die Ergebnisse der gruppenweise durchgeführten Recherchen kamen sukzessive zur Präsentation und Diskussion, an zwei Abenden in Paris sowie im Rahmen einer Abschlussveranstaltung am 26. November 2009 in unserer Institutsbibliothek. Die einzelnen Themen: Passage des Panoramas als Produktions-, Distributions- und Rezeptionsraum; Cimetière du Père Lachaise als Kultort; Belleville und das Habitus-Konzept; Les Halles und seine Umbauten; einheimische und touristische Wahrnehmung von Straßenmusikern; die Buchhandlung Shakespeare & Co. als Ort vielfältiger Bedeutung; Unisextoiletten und Öffentlichkeitswandel; Marais als schwules Viertel; Photographierverhalten von Touristen.

Exkursionsleitung und Studierende bedanken sich ganz herzlich und nachdrücklich beim Institutsleiter, beim Dekan der Fakultät 12 sowie beim Vorstand der Münchner Vereinigung für Volkskunde, ohne deren wirklich großzügige Unterstützung es kaum möglich gewesen wäre, das Projekt in ein veritables Produkt zu verwandeln. Die Gruppe weiß diese finanzielle Förderung sehr zu schätzen. Merci à tous!