Institut für Empirische Kulturwissenschaften und Europäische Ethnologie
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Schottland (23. bis 31. März 2014)

In Schottland sollte im Herbst 2014 über die Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich abgestimmt werden, Edinburgh ist Partnerstadt Münchens und Schauplatz einer großen heritage industry, Glasgow gilt als Stadt mit vielfältigen sozialen Problemen, aber auch als Kunst- und Popmusik-Metropole von europäischem Rang, und die beiden Städte mit ihrer Rivalität bilden ein Lehrbuchbeispiel für die relationale Bestimmung städtischer Habitus: Gründe genug für eine kulturwissenschaftliche Studienreise. Die Exkursion hatte, wie auch das vorbereitende Seminar, zwei thematische Schwerpunkte: Repräsentationen schottischer Kultur und Identität im Zusammenhang der Unabhängigkeitsdebatte zum einen, kulturelle Dynamiken einer postindustriellen Stadt zum anderen. Neben den beiden Exkursionleitern nahmen 22 Studierende und drei weitere MitarbeiterInnen an der Exkursion teil, die, um es vorwegzunehmen, viele bleibende Eindrücke hinterließ und von den Verantwortlichen inhaltlich wie auch atmosphärisch als sehr gelungen empfunden wurde.

Die ersten zwei Tage, die die Gruppe in Edinburgh verbrachte, waren geprägt vom Thema der Schottland-Bilder und ihrer Funktionen im Kontext der Unabhängigkeitsdebatte – allerdings fanden wir schnell heraus, dass für die gegenwärtige Debatte kulturelle Argumente gegenüber den ökonomischen und repräsentationspolitischen nur eine sehr untergeordnete Rolle spielen. Am ersten Abend hörten wir dazu Einschätzungen von Tom Mathar, einem Europäischen Ethnologen aus Deutschland, der als Marktforscher im Tourismusbereich in Edinburgh lebt. Der Montag begann mit einem Rundgang durch die ehemalige Residenzstadt, die von der New Town (18. Jh.) zum Schloss führte. Vor allem aber besuchten wir die KollegInnen und KommilitonInnen der „Scottish Ethnology“ an der University of Edinburgh – einem der wenigen volkskundlich-folkloristischen Institute in Großbritannien. Geleitet von Professor Gary West und angesiedelt in den Räumen der „Celtic Studies“, bewegt sich die Arbeit des Instituts weitgehend im Rahmen eines klassischen volkskundlichen Kanons: Sprache/Dialekt, Musik, Lieder, Sagen und andere Erzählungen, „Heritage“-Fragen. Das „European Ethnological Research Centre“, lange Zeit von Alexander Fenton geleitet und inzwischen dem Institut angegliedert, schließt derzeit seine umfassende, enzyklopädische Darstellung von „Scottish Life and Society“ ab und unternimmt regional-ethnografische Forschungen. Die Kollegen präsentierten sich aber nicht nur mit facettenreichen Projektvorstellungen, sondern auch mit traditioneller Musik: gesungen, am Klavier, an der Gitarre und, besonders eindrucksvoll, mit der Lowland-Bagpipe, einem kleinen Bruder des bekannteren Dudelsacks, der nicht geblasen, sondern gequetscht wird. Die Erwartung, ebenfalls einschlägiges regionales Liedgut vorzutragen, sorgte bei weiten Teilen der Münchner Gruppe für eine gewisse Überforderung und führte zum festen Vorsatz, künftige Exkursionen musikalisch gründlich vorzubereiten: Nur so, so hielt der Lehrkörper sarkastisch und schuldbewusst fest, lassen sich in solchen Extremsituationen wohl die Folgen einer wissenschaftlichen und alltagsweltlichen Abkehr von der Volkskultur zumindest situativ kompensieren. Leichter fiel da die schnelle Besteigung des Hausbergs von Edinburgh, dem Arthur’s Seat, und der harmonische abendliche Ausklang mit den Kollegen und KommilitonInnen im Sandy Bell‘s, einem Pub, der weit über die Stadtgrenzen hinaus für seine Rolle im Folk-Music-Revival berühmt ist.

Am zweiten Tag besichtigte und diskutierte die Gruppe offizielle Repräsentationen schottischer Identität im National Museum, das mit seiner Ausstellung „Scotland: A Changing Nation“ die großen Erzählungen schottischer Geschichte und Kultur sehr dicht vorführte. Ein zweiter Programmpunkt war das Parlamentsgebäude, entworfen vom spanischen bzw. katalanischen Architekten Enric Miralles (2004), in dem wir kurz auch einer Parlamentsdebatte über eine mögliche Reform des schottischen Führerscheinwesens beiwohnten. Es war keine leidenschaftliche Debatte, aber auch sie war Anlass für eine Aufführung des rhetorisch offenkundig gut eingespielten Kompetenzgerangels zwischen Edinburgh und London bzw. Nationalisten und britisch orientierter Labour-Partei. Der späte Nachmittag setzte mit Wahrnehmungsspaziergängen durch das Hafenviertel Leith einen stadtästhetischen Kontrapunkt zu den wohlkomponierten Silhouetten der Innenstadt. Die inhaltlichen Diskussionen in Edinburgh drehten sich aber vor allem um Fragen wie diejenige, inwiefern sich ein „civic nationalism“, wie ihn viele Schotten für sich beanspruchen, tatsächlich trennscharf von einem „ethnic nationalism“ unterscheiden lässt, und wie diese Konstellation historisch entstanden ist; oder auch um den für uns ungewohnten (aber in Europa auch nicht singulären) politisch „linken“ Nationalismus und um die Rolle, die VolkskundlerInnen dabei spielten und spielen.

Mit dem Abschied vom Edinburgh am Mittwoch wandte sich die Reisegruppe zunächst der Industriegeschichte und ihrer musealen Darstellung zu: Zuerst im Summerlee Museum of Industrial Life, dem größten derartigen Areal des Landes, das mit einer Kohlemine, den Überbleibseln einer Eisengießerei, allerlei Maschinen und vielen anderen Exponaten großflächig wesentliche Aspekte des Industriezeitalters präsentiert. Die alltagesgeschichtliche Ebene beleuchte das Museum mit typischen Wohnzimmern und Küchen in ArbeiterInnenwohnungen (miners’ cottages) vom mittleren 19. Jahrhundert bis in die 1980er-Jahre; neben den technischen Aspekten betont das Museum ansonsten stark die Brutalität der frühkapitalistischen Verhältnisse. Wie in den meisten Museen, die vom britischen Staat unterhalten werden, ist der Eintritt kostenlos. Ganz anders gestaltet ist die Weltkulturerbe-Stätte New Lanark, gelegen im idyllischen Tal des Clyde. Schon durch die Lage und die architektonische Geschlossenheit beeindruckt die Anlage aus dem späten 18. Jahrhundert, zu dieser Zeit die größte Baumwollspinnerei Großbritanniens, sehr. In einer für Kinder gestalteten Kabinen-Fahrt, einer Art Geisterbahn, führt ein Hologramm einer fiktiven Figur, der zwölfjährigen Textilarbeiterin Annie McLeod, durch einen Abriss der Arbeits- und Lebensverhältnisse. New Lanark präsentiert sich dabei nicht nur als industriegeschichtliche Sehenswürdigkeit, sondern auch als Mahnmal für den Sozialreformer und Utopisten Robert Owen, der New Lanark lange Zeit prägte und als ihr Besitzer bemüht war, menschenfreundliche Formen der Arbeitsorganisation zu etablieren. Inwiefern er mit Mitteln wie dem „silent monitor“, der das Betragen der ArbeiterInnen dokumentierte, wiederum subtilere Kontrollmechanismen und eine Internalisierung der Autorität der Aufseher vorantrieb, ähnlich dem, was Michel Foucault in „Überwachen und Strafen“ beschreibt, wurde auf den historischen Schulräumen anschließend ausführlich und kontrovers debattiert.

In Glasgow angekommen, diente der erste Tag auch hier dem Kennenlernen der Stadt, die bis ins frühe 20. Jahrhundert die zweitgrößte Industriemetropole des „Empire“ war, seitdem mehrere Deindustrialisierungsschübe zu verkraften hatte und weiterhin nach einer wirtschaftlichen Basis sucht, die auch für diejenigen GlasgowerInnen, die in den oberen Etagen der „Wissensgesellschaft“ nicht unterkommen, Auskommen und Würde bietet. Da das Hotel nahe der Sauchiehall Street lag, an der sich Pubs, Clubs und Konzert-Venues aneinanderreihen, war auch ein weiterer Aspekt der Stadt von Anfang an präsent: das blühende Nachtleben und die in Schottland und insbesondere Glasgow weit verbreitete Leidenschaft für die populäre Musik.

Der Historiker Ronnie Scott führte die Gruppe am frühen Morgen durch die gewaltigen ehemalige Hafen- und Industrieanlagen entlang des Clyde, die inzwischen durch Brachflächen und eine Reihe von „Event-Bauten“ prominenter internationaler ArchitektInnen für die Medien- und Kulturindustrien dominiert sind. Letztere sollen den tourismusförderlichen „Gehry-Effekt“ wiederholen, wie er aus Bilbao bekannt ist – eine Entwicklung, die der Führer mit einem Sarkasmus kommentierte, dem die Gruppe in Gesprächen in Glasgow immer wieder begegnen sollte. Eine weitere wichtige Station des Stadtrundganges war die Glasgow Cathedral, die das mittelalterliche Stadtzentrum markiert und dem Stadtpatron St. Mungo/Kentigern geweiht ist. Die „Necropolis“, ein an die Kathedrale anschließender Hügel mit Gräbern wohlhabender Glasgower Bürger, dokumentiert die viktorianische Sepulkralkultur und gibt beeindruckende Ausblicke auf das architektonische Chaos der Stadt. Im West End besichtigten wir am späten Nachmittag das Kelvingrove Museum, ein Universalmuseum im Weltausstellungs-Stil der 1890er-Jahre. Den Abschluss dieses laufintensiven Tages bildete ein Spaziergang durch das Universitätsviertel.

Der zweite Tag in Glasgow war dem Leben und Wohnen und der Wohnungsbaupolitik zwischen industriell-fordistischer und postindustrieller Ära gewidmet. Ausgangspunkt war zunächst der „People’s Palace“, ein prächtiges Palais im Stadtpark Glasgow Green, das als stadtgeschichtliches Museum fungiert. In einem geführten Rundgang durch die alltagsgeschichtlich geprägte Dauerausstellung wurde uns die Geschichte der „kleinen Leute“ der Stadt nahegebracht, zu der sich die Führerin (wie viele Kulturschaffende, denen wir begegneten) selbstverständlich auch selbst zählte. Die aktuelle Sonderausstellung beschäftigte sich mit der „Red Road“, einer Hochhaus-Wohnsiedlung für ca. 4.500 Menschen am Stadtrand von Glasgow, die in den 1960er-Jahren errichtet wurde und inzwischen als Inbegriff gescheiterter Stadtplanung im fordistisch-sozialdemokratischen Zeitalter gilt. Derzeit wird sie sukzessive „rückgebaut“ bzw. gesprengt. Die Ausstellung erzählt von den Erinnerungen an das Wohnen in den 30-stöckigen Gebäuden, die im Wind schwankten, vom Wegziehen aus den Slums, von Kinderspielen und von einer riesigen Bingo-Halle, aber auch vom Niedergang der Gebäude und der Beziehungen unter den BewohnerInnen seit den 70ern. Die Ausstellung entstand im Rahmen eines größeren, von der städtischen Wohnungsbehörde finanzierten „cultural programme“, an dem viele KünstlerInnen und auch SozialwissenschaftlerInnen teilgenommen hatten. Alison Irvine, Autorin des quasidokumentarischen Romans „This Road Is Red“, der auf Gebäudeabrisse spezialisierte Fotograf Chris Leslie und der Zeichner Mitch Miller, der in „Dialectograms“ die sozial-kulturell-materielle Funktionsweise von Orten dokumentiert, führten durch die Ausstellung und erläuterten die historischen Hintergründe und ihre eigenen Beiträge zur Ausstellung. Danach führten sie die Exkursionsgruppe zur Red Road – mit einem gecharterten Bus, denn mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist die Gegend nicht so leicht zu erreichen, was einen grundlegenden Planungsfehler auch für uns schnell sichtbar machte. Weitere Programmpunkte dieser etwas morbiden Tour waren Sight Hill, ein anderes Hochhausviertel, das derzeit abgerissen wird, und ein Steinkreis, der keine vorchristlichen Ursprünge hat, sondern in den späten 70ern im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme gebaut wurde (und Margaret Thatcher dann im Wahlkampf als Beispiel für verschwenderischen Umgang mit Steuergeldern diente – eine von vielen Glasgower Geschichten, die wir mit ungläubigem Staunen hörten).

Chris Leslie und Mitch Miller richteten auch das Programm am Samstag aus, das aktuelle Fragen der Stadtentwicklung und Auseinandersetzungen um die Gestaltung von städtischer Räume beleuchtete. Sie beschäftigen sich derzeit im Rahmen des Kulturprogramms der „Commonwealth Games“ mit dem Marktgelände „Barras“ im innenstadtnahen East End. Die Führung dort übernahm Gary Barton, einer ihrer „Gewährsleute“ und als „misterglasgow“ seinerseits ein Youtube-Star, der sich als irisch-schottischer „Hawker“ in vierter Generation vorstellte und eine Führung begann, deren Witz sich hier leider nicht wiedergeben lässt. Das Barras ist, nach vielen Jahren der Vernachlässigung und des Wandels der Einkaufsgewohnheiten, ein wenig frequentierter Mark für unterschiedlichste Dinge (Antiquitäten, Medien, Kleidung, Nahrung), der bei den Stadtoberen vor allem wegen des Verkaufs illegaler Güter (Software, DVDs), der von einigen HänderInnen betrieben wird stattfindet, schlecht beleumundet ist. Für viele VerkäuferInnen und ihre StammkundInnen bildet das Barras dagegen offenkundig eine soziale Welt, die einen Orientierungspunkt bietet, um das eigene Leben zu gestalten, das sich materiell oft nahe an der Armutsgrenze bewegt. Im Rahmen der „Commonwealth Games“ spendierten die städtischen Institutionen einen Anstrich für die Fassaden, die an einer großen Straße liegen, die zu den Sportstätten führt – eine Form von stadtplanerischer Kosmetik, die unsere Gesprächspartner als typisch für die Ignoranz gegenüber ihrer Situation wahrnahmen. Aussagekräftig schien auch die Geschichte verschiedener verfallener Gebäude auf dem Barras-Areal, die von KunststudentInnen „bespielt“ oder von lokalen Popmusik-Größen für Konzerte genutzt werden. Die ambivalenten Einschätzungen, die wir dazu zu hören bekamen, gaben einen sehr guten Einblick in die Dynamiken von (Populär-)Kulturförderung und Gentrifizierung im Kontext einer gewachsenen, stolzen, unterprivilegierten Bevölkerungsgruppe. Am Nachmittag verlegten wir uns in die Räume der Business School der Strathclyde University. Leslie und Miller präsentierten ihre künstlerischen Arbeiten aus den letzten Jahren, die sich mit verschiedenen Facetten städtischen Lebens beschäftigten und auf ausführlichen ethnografischen Recherchen basieren, was zu interessanten Diskussionen um Methodologie und Forschungsethik Anlass gab. In der abendlichen Runde versammelten sich die Gruppe und die Gesprächspartner dieses Tages im „West“, einer „Micro-Brewery“ in den prächtigen Räumen einer ehemaligen Teppichfabrik, die, in unmittelbarer Nähe eines früheren Millionärsviertels im East End gelegen, in ihrer Architektur an den Dogenpalast in Venedig zu erinnern versucht. Das „West“ ist sehr beliebt und wird von einer Münchnerin betrieben, die bayerische Spezialitäten serviert und ein Bier namens „Munich Red“ präsentiert – fernab der Oktoberfest-Klischees, „urban“ im spätmodernen Sinn.

Am Sonntag gab es eine spontan arrangierte Führung durch einen weiteren zentralen Raum des Barras, die legendäre Konzert-Venue „Barrowland Ballroom“. Danach teilte sich die Gruppe für kleine Feldforschungsübungen auf. Thematisch orientierten sich diese Übungen an den Themen der Referate im Vorbereitungsseminar – und bei der abendlichen Besprechung wurde schnell deutlich, dass es vielen Studierenden sehr gut gelungen war, mit „Glaswegians“ ins Gespräch zu kommen und kleine Diskussionen zu führen: zum Stadtumbau im Zuge der Commonwealth Games im Stadtviertel Dalmarnock; zum Zusammenhang von Fußball und religiös-ethnischem „sectarianism“; zur Unabhängigkeitsdebatte; zur Bedeutung schottischer Literatur; zum Umgang mit der gälischen Sprache; zur elektronischen Musikszene Glasgows; zur kulturellen Bedeutung von Hochhäusern, zur Ernährung und zum „nation branding“; zum touristischen Highland-Bild und vielen weiteren Themen.