Institut für Empirische Kulturwissenschaften und Europäische Ethnologie
print

Links und Funktionen
Sprachumschaltung

Navigationspfad


Inhaltsbereich

Christiane Schwab M.A.: „Letters from Spain“ von José María Blanco White. Zwischem aufklärerischem und romantischem Interesse für die Kultur des Alltags

Die Letters from Spain (1822), die zunächst in einer bürgerlichen Zeitschrift in England veröffentlicht wurden, stammen aus der Feder des spanischen Priesters und Theologen José María Blanco White (1775-1841). Bereits in jungen Jahren war er in den Zwiespalt zwischen katholischer Orthodoxie auf der einen und französischer Aufklärung und englischem Epirismus auf der anderen Seite geraten. Seit 1810 lebte er in England im Exil.Die Autorin geht der Frage nach, inwieweit die Letters als Quelle sowie auch als frühes Dokument einer europäischen Beobachtungskultur zu bewerten sind.

Zunächst erschließt sie anhand der Biographie Blancos die politischen und ideengeschichtlichen Verhältnisse der Umbruchszeit um 1800, als agrarisch-traditionale Strukturen im Spannungsverhältnis zur industriellen Moderne und neuen Gesellschaftsstrukturen standen, als die Wissensform der enzyklopädischen Addition zur wissenschaftlichen Spezialmethodik überging und der universalistisch-vergleichende Blick der Aufklärung nach und nach einem historisierenden Partikularismus wich. Im Hauptteil der Arbeit führt die quellenkritische Frage nach den grundlegenden Genres der Letters  in ein komplexes System von  Diskussionszusammenhängen zwischen Reiseliteratur, bürgerlich-aufklärerischer Zeitkritik, historisch-geographischer Wissenschaft und der romantischen Entdeckung des Eigentümlichen. Die Diskussion dieser Denkströmungen, die sich als konstitutiv für die Herausbildung der ethnologischen Wissenschaften erwiesen, stellt zugleich den Entwurf für eine vergleichende Fachgeschichte dar, die den vorherrschenden nationalen bzw. sprachlichen und auch institutionellen Horizont aufbricht und nach umfassenden geistigen Strömungen fragt, die ein verändertes Interesse für den Menschen, seine Kultur und seine Geschichte bewirkten und den Nährboden für die Entstehung des ethnologischen Blicks darstellten. Im Rahmen der Quellenkritik werden zudem die Produktions- und Rezeptionszusammenhänge der Letters problematisiert sowie der subjektive Standort des Autors mit seinen Denkmustern, Intentionen und Beglaubigungsstrategien und seiner besonderen Stellung als „marginal man“ (Park).

Eine anschließende Präsentation breiter Ausschnitte des Textkorpus durch eine deduktive Herangehensweise mittels kulturwissenschaftlicher Kriterien wie „Volkskultur“, „Alltag“ oder „Deutungsmuster“ verdeutlicht den ethnographischen, bisweilen ethnologischen Wert der Letters.Abschließend betont Christiane Schwab die Bedeutung der Letters als ein Dokument europäischer Beobachtungskultur, das anhand der Analyse seiner konstitutiven Diskussionszusammenhänge in eine spezifisch europäische Art der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung hineinführt. Diese manifestiert sich in der Tradition europäischer Reisebeschreibungen, die zunehmend mit wissenschaftlichen Ansprüchen verbunden waren, wie auch im bürgerlichen Prüfen althergebrachter Lebensformen, im neuen geschichtlichen Denken sowie in der romantischen Entdeckung des Eigentümlichen. Die Auseinandersetzung mit den Letters zeigt: Das Ernstnehmen Europas als „Werkstatt des ethnologischen Blicks“ (Kaschuba) und ein vergleichend-erkenntnistheoretisches Programm für seine historische Ausdehnung können dazu anregen, eine vieldimensionale Geschichte europäischer Selbstbeobachtung zu schreiben und sich von ihrem Perspektivenspektrum für die Gegenwart und den Blick in die Zukunft anregen zu lassen.